Not the
only gay
in the City

Ein gutes Projekt ist eines, das langsam wächst und das einem als Mensch und Fotografen
nah am Herzen liegt. Daher habe ich mich längere Zeit mit der Themenwahl meines ersten größeren Fotoprojekts beschäftigt.

Als schwuler und queer engagierter Mann lag nah, dass es ein queeres Thema sein würde. Mir ist es wichtig, dass das Thema der Akzeptanz von und Toleranz für queere Lebensformen in der Öffentlichkeit präsent ist und bleibt; gerade angesichts der wieder zunehmenden Homophobie und Diskriminie- rung in (vor allem Ost-) Europa und weltweit. Die erregte Diskussion um das Gruppen- Coming-Out von Künstler*innen im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ (02/21) und den Beitrag zur Homosexualität im Fußball („Elf Freunde“ 02/21), homophobe Gesetz- geber*innen in Polen und Ungarn u.v.a. zeigen, dass das Thema Sichtbarkeit von Mitgliedern der LGBTIQ+-Gemeinde zeitlos und relevant ist.

Die Frage nach einem „schwulen Ort“ stellte sich mir. Gibt es ihn überhaupt? Was macht ihn aus? Ist er heute noch relevant? Ist er für Jung und Alt verschieden? Ist es zwingend ein sog. „safe space“, ein sicherer Ort? Ist es nur ein Ort, an dem sich die LGBTIQ+- Community trifft? 

Oder ein sichtbares Symbol für den Slogan „We’re here, we’re queer!“? Oder hat jeder schwule Mann seinen ganz individuellen schwulen Ort, abhängig von der eigenen Sozialisation und Biographie, von der eigenen Identitätsfindung?

Ich habe 50 schwule Männer gefragt:

WAS IST EIN PRÄGENDER ORT DEINER SCHWULEN BIOGRAFIE?

Männer verschiedener Altersgruppen und Herkünfte, die meisten von ihnen heute in Hamburg zu Hause, haben mir ihre Geschichten erzählt. Geschichten ihres Coming-Outs, ihrer Selbstfindung als schwuler Mann, Geschichten von Angst und Mut, von Verleugnung in einer hetero-normativen Welt, von Unterdrückung, Verdrängung und Befreiung. Die Teilnahme an meinem Fotoprojekt ist für sie auch Ausdruck ihrer Selbstdarstellung als schwuler Mann, ist gleichsam visueller Ausdruck von Pride. Und ihres Wissens und ihrer festen Überzeugung: Wir sind nicht allein, wir sind ganz sicher:

Axel

Rothenburgsort, Hamburg

Vor sechs Jahren wurde mein Leben als Ehemann und Vater durch mein Coming-out auf den Kopf gestellt. Der persönliche Neuanfang brachte mich aus einer Kleinstadt bei Lüneburg (Niedersachsen) nach Hamburg. Zum Glück fand ich bald eine schöne Wohnung in Rothenburgsort (einem Stadtteil südlich der Bille). Es war anfangs gar nicht so einfach, aber ich habe es geschafft, mir hier ein neues Zuhause aufzubauen. Ich liebe die Nähe zum Stadtzentrum, zum Hamburger Nachtleben, zur Elbe und zur Natur im Allgemeinen. Man könnte also sagen, dass ich durch meinen Neuanfang hier in Rothenburgsort gelandet bin. Meine Tochter kommt mich oft besuchen, sie fühlt sich hier wohl und wir sind uns immer noch sehr nah.

Hendrik

Schwanenwik, Hamburg
Lange hatte ich überlegt, von Oldenburg nach Hamburg zu ziehen. Und letztes Jahr war es endlich soweit. Mein neues Zuhause wurde St. Georg, genauer die Lange Reihe. Besonders aber die Alster bzw. die Schwanenwik hat es mir angetan. Hier kommen alle zusammen, ob jung oder alt, arm oder reich, gay oder hetero. Hier ist alles egal, die Magie und das Funkeln des Wassers zieht alle an. Hier hatte ich erste schwule Dates (wofür sich dieser Ort besonders gut eignet, ist man doch nicht allein hier als Schwuler), Treffen mit Freund*innen auf ein Bier bei Sonnenuntergang oder einfach nur Zeit für mich zum Abschalten. Das Beste für mich an diesem Ort ist jedoch der tolle Blick auf die Stadt.

Jens P.

Pagenfelder Straße, Hamburg
1984, Silvesterparty bei Marianne, meiner beste Schulfreundin damals, in der Pagenfelder Straße in Hamburg. Ich war 18 Jahre alt und hatte in dieser Nacht das erste Mal Sex mit einem anderen Mann. Das war mein Start in ein neues Jahr – und ein neues Leben. 1985 wurde für mich das Jahr der großen Veränderungen: erster Freund, Coming-out in der Familie, Schwulenszene, Sex – mit ständiger Angst vor HIV -, erste Aktivitäten in der Schwulenbewegung, dann Abitur, Bundeswehr und weg von Zuhause – der Beginn meines Erwachsenwerdens.

Kim

Deichstraße, Hamburg
Anfang der 90er Jahre als Däne nach Hamburg zu gehen, war keine freiwillige Entscheidung von mir. Hamburg ist mir vielmehr zugelaufen. Meine erste Wohnung, die mir mein Arbeitgeber zur Verfügung stellte, gab mir die Freiheit, neue Erfahrungen zu sammeln und mich selbst zu entdecken. Und schließlich hat Hamburg mir meinen Mann geschenkt.

Klaus

AIDS-Hilfe, Hamburg

Seit frühester Kindheit bin ich mit St. Georg verbunden, da ich dort aufgewachsen bin. Natürlich hatte ich dort auch meine erste eigene Wohnung; insofern war es nur eine Frage der Zeit, dass ich ehrenamtlich in der Langen Reihe bei der dortigen AIDS-Hilfe tätig wurde. Seit 2005 nutze ich dort die Gelegenheit, Gutes für die überwiegend queere Gemeinde zu tun.

Die ehrenamtlichen Helfer*innen übernehmen hier viele Aufgaben, für die in der Vielfalt sonst weder Geld noch Personal da wäre: Sie führen Aufklärungsveranstaltungen durch, verteilen Kondome bei Partys und in Bars, begleiten HIV-Infizierte im Alltag, arbeiten an der Telefonberatung mit, engagieren sich in der Öffentlichkeitsarbeit usw. Dies ist Teil meines schwulen Lebens.

Martin

Hansaplatz, Hamburg
Der Hansaplatz ist für mich ein wichtiger Ort, denn hier bin ich in eine WG gezogen, in der ich mich so wohl fühle wie bei meiner eigenen Familie. Ich war mit meiner damaligen Freundin nach Hamburg gezogen, habe aber bald gemerkt, dass ich auf Männer stehe. Wir lebten noch ein paar Jahre zusammen, aber das Schicksal wollte es, dass ich eines Tages drei andere schwule Männer traf, die am Hansaplatz einen vierten Mitbewohner suchten. Was für ein Zufall! Hier fühle ich mich – trotz der manchmal ungemütlichen Atmosphäre des Platzes – zu Hause, ich fühle mich wohl und glücklich.

Michael

Planten un Blomen, Hamburg
Vor fast 19 Jahren habe ich mich hier entschieden, meinen ersten Freund zu verlassen. Ich wanderte durch den Hamburger Erholungspark „Planten un Blomen“ und landete schließlich hier, mitten im Schilf. Die Tristesse und winterliche Verwahrlosung des Ortes spiegelte meine Stimmung perfekt wider. Erst vor einem halben Jahr hatte ich mein Coming-out gehabt und mich offen vor meinem Freund geoutet. Die schwule Welt war für mich damals völlig neu. Nachdem ich also in diesem emotionalen Aufruhr einen Anker gefunden hatte, der mir scheinbar festen Halt gab, musste ich ihn wieder loslassen.

Norbert

Mein Bett, Hamburg
Mein Bett als Ort der schwulen Identitätsfindung – ist das nicht ein bisschen abgedroschen? Nein! Generell steht das Bett für Sexualität und Sex – beides gehört zum schwulen Leben, oder? Ich habe so viele coole Männer kennengelernt, hatte wunderbare Begegnungen. Und klar, ich habe meine schwule Identität auch im Bett entwickelt und erkundet. Heute findet ein großer Teil des schwulen Lebens in virtuellen Welten statt, im Bett sitzend mit dem Laptop … Strange new world!

Paul

Ottensen, Hamburg
Ottensen (einer der beliebtesten Stadtteile Hamburgs) und die Elbe waren meine ersten Lieblingsstationen, als ich 2012 nach Hamburg zog. In diesem Stadtteil habe ich gelernt, auf eine Art und Weise zu leben und zu lieben, wie ich es in meiner kleinen Heimatstadt nicht gewohnt war. In Ottensen ist das Leben bunt, laut und frei. Es ist geprägt von den verschiedenen Sprachen, die die Menschen sprechen, den unterschiedlichen Nationalitäten und den vielen Regenbogenfahnen, die an den Balkonen hängen. Als junger schwuler Mann ist das Leben hier wunderbar. Ich habe auch in anderen Stadtteilen gewohnt, aber ich wusste immer, dass ich in mein Ottensen oder „das kleine Paris an der Elbe“, wie manche es nennen, zurückkehren würde. Wenn ich den Sonnenuntergang mit einem Bier in der Hand auf dem Altonaer Balkon genieße (ein Aussichtspunkt, von dem aus man einen schönen Blick auf den Fluss und den Hafen hat) oder wenn ich die Schiffshörner aus der Ferne höre, weiß ich ganz sicher: Das ist mein Zuhause.

Roman

Neustadt, Hamburg
Hamburg und insbesondere die Neustadt bedeuteten einen sauberen Schnitt mit meinem alten Leben. Alles wurde auf den Kopf gestellt, auch die Liebe. Ich habe mich neu orientiert und alte Wege verlassen. Bereut habe ich es aber nicht im Geringsten. Auch nach sieben Jahren fühlt sich Hamburg für mich immer noch neu und ein bisschen wie Urlaub an. Hier habe ich meine große Liebe gefunden und ein Nest für uns beide gebaut. Mein schwules Leben ist – für mich – eine Konstante, schön und absolut natürlich geworden. So wie es sein sollte. Als schwuler Mann habe ich mich hier immer sicher und zu Hause gefühlt.

Stefan

Lombardsbrücke, Hamburg
Im Frühjahr 1992, dem Jahr meines Coming-outs, zog ich nach Hamburg, und im Sommer desselben Jahres erlebte ich dort meinen ersten Pride Day. Allerdings muss man wissen, dass Pride 1992 etwas ganz anderes bedeutete als heute. Keine Konvois, laute Musik und feiernde Massen, sondern eine eher politische und weniger glamouröse Veranstaltung. Auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz in der Innenstadt hatten wir einige Klebetische aufgestellt und Infomaterial für Passanten und Interessierte zum Mitnehmen angeboten. Am Abend dieses aufregenden Tages verließ ich mit einem Freund das Stadtzentrum und wir gingen über die Lombardsbrücke, die über die Alster führt. Plötzlich blieb mein Freund stehen, zeigte in Richtung Rathaus und das zu bestaunende Panorama und sagte: „Deshalb liebe ich Hamburg.“ Und bis zum heutigen Tag geht es mir genauso. Oft, wenn ich an dieser Stelle auf der Brücke vorbeikomme, denke ich an dieses wunderbare Ende meines ersten Stolzes zurück.